2030: Eine Welt zum Shoppen
Für heute hat sich Leon eine ausgedehnte Shoppingtour vorgenommen. Sein Freundin Mia hat keine Zeit, sie muss sich um ihr Creator-Business kümmern. Nachher sind sie zum gemeinsamen Streaming-Abend verabredet – kein Problem, denn sie sind ja beide zuhause.
Leon trägt eine randlose Brille, die ihm im Grunde längst die überfüllte Fußgängerzone ersetzt, in die sich der Anfang 20-Jährige schon lange nicht mehr begibt. Und noch besser: Statt dort immer nur dieselben zehn Markenshops besuchen zu können, die in der Vergangenheit oftmals das Bild jeder halbwegs größeren Stadt prägten, kann Leon jetzt auf ein buntes Sammelsurium von Einkaufsmöglichkeiten zurückgreifen – von der Edelboutique über den Klamotten-Discounter bis hin zur inhaber*innengeführten Sammlung von Nippes und Kunsthandwerk.
Alles ist vernetzt
In seine vernetzte Brille, die inzwischen mehr Ähnlichkeit mit Designermodellen bekannter Anbieter hat, als mit den klobigen Rahmen der 2020er Jahre, bekommt Leon via Hologramm jede beliebige Shopping- Umgebung eingespielt. Er kann sich dort auch räumlich so bewegen, als wäre er vor Ort. Zu jedem Verkaufsprodukt, das er bei seinen Touren sieht, bekommt er auf Wunsch Zusatzinformationen zu den Produkten, Zutaten, Nachhaltigkeit oder Herstellungsbedingungen. Diese Infos kann er ganz einfach mit einer Fingergeste oder einem Sprachbefehl abrufen.
Alles bleibt real
Trotz der Hologramme und Avatare verliert Leon aber niemals den visuellen, auditiven und sinnlichen Kontakt zu seiner direkten Umwelt. Das ist ihm wichtig, und nicht nur, damit er nicht mit dem kleinen Zeh vor das nächste Tischbein rennt, sondern weil er damit virtuelle und reale Welt nahtlos verbinden kann und in beiden Welten ansprechbar ist. So kann er sich zum Beispiel mit einem neuen Hut vor den Spiegel stellen und schauen, ob – und wie – er ihm steht. Oder er nimmt den neuen Stift als Hologramm in die Hand und schreibt mit ihm auf ein leeres Blatt, das nicht aus Papier ist, sondern aus einem adaptiven Material, das seine Eingaben direkt in Daten verwandelt. Würden wir Leon fragen, wie das heißt, wo er da ist, würde er mit den Schultern zucken: „Wirklichkeit vielleicht?“ Der Begriff Metaverse, unter dem wir dieses Szenario schon vor zehn Jahren diskutiert haben, hat sich nicht durchgesetzt – wohl auch, weil sich niemand so recht vorstellen wollte, in virtuellen Umgebungen einzukaufen. Das jedenfalls hat eine Civey-Umfrage aus dem Jahr 2022 gezeigt. Damals sagten drei von vier Leuten, dass sie niemals mit einer VR- Brille einkaufen gehen würden. Und sechs von zehn Befragte lehnten es damals ab, virtuelle und reale Welt miteinander zu verschmelzen.
Nahtlos shoppen
Aber damals wussten sie ja noch nicht, wie nahtlos das wirklich geht. Im Grunde geht es Leon vor allem darum, dass er über die modernen Technologien – Brille, Sprachsteuerung, Hologramme und Avatare – ein wirklich sinnliches und individuelles Shopping-Erlebnis genießen kann – oder doch wenigstens das, was er dafür hält. Denn in Wirklichkeit schaffen es die Shops auch 2030 nicht, auf jeden einzelnen Kundenwunsch individuell einzugehen. Sie arbeiten mit einer Unmenge von Daten, die aber weniger individuell als prototypisch sind: Männer im Alter zwischen 30 und 35 beispielsweise, also nach ihrem Studium oder einer Berufsausbildung, in ihrem ersten oder zweiten gut bezahlten Job. Familienplanung ist ein Thema, aber keins, das schon abgeschlossen ist. Es sind Männer wie beispielsweise Leons Cousin – dieses Kategorie-Wissen reicht, um ihnen individuell auf sie zugeschnittene Angebote machen zu können. Und das heißt nicht, dass Leons Cousin bei seiner Shoppingtour nur auf Sachen trifft, die ihm gefallen und sich womöglich deutlich von dem unterscheiden, was Leon zu sehen bekommt; auch 2030 gibt es noch immer Unschärfen und Überraschungen, aber das ist kein Zufall und kein Fehler, sondern Teil des Erlebnisses. Physische und virtuelle Welt sind dabei maximal miteinander verbunden. Die klassischen Shopping-Meilen gibt es auch weiterhin. Viele stationäre Läden nutzen die Möglichkeiten von AR- und VR- Technologien, um Kund*innen zu begeistern oder auch konkrete Mehrwerte zu schaffen – beispielsweise bei der Anprobe von Schmuck, Kosmetik oder Kleidung. Manches Möbelhaus geht inzwischen sogar noch einen Schritt weiter und stellt weiße Möbel als Projektionsflächen in seinem Ladengeschäft aus, die mit hochgradig individuellen AR- und VR-Designs bespielt werden.
Shopping & Gamification
Apropos: Wenn Leon will, kann er seine Shoppingtour auch als Adventure bestellen, denn nicht nur physische und virtuelle Welten sind zusammengewachsen, sondern auch Ernst und Spiel, wenn man es denn so gegenüberstellen will. „Adventure Shopping“ verspricht auf jeden Fall richtig viel Spaß, wenn es darum geht, sich einen Weg durch die Menge an Zombies freizukämpfen. Ist das nun die schöne neue Welt, die schon in den 2020er Jahren versprochen wurde? Damals ging es vor allem um Kundennähe, Erlebnisse und Nachhaltigkeit. Kann die neue Shoppingwelt diese Versprechen tatsächlich einhalten?
Die Welt zuhause
Bei Kundennähe und Erlebnissen macht Leon einen dicken Haken dran: „Na klar, denn wie sonst kann ich durch die ganze Welt reisen, ohne die Wohnung verlassen zu müssen! Wie könnte ich sonst abwechslungsreiche Shopping-Erlebnisse ohne große Mühen und an einem einzigen Ort vorfinden!“ Nachdenklich wird er jedoch, wenn er an das haptische Erleben denkt. Die neue Welt ist noch immer visuell. Das Fühlen, Schmecken und Riechen sind auf der Strecke geblieben. Außerdem ist das AR-VR-Design des Sofas am Ende auch nicht alles, was zählt. Da besteht aus Leons Sicht dann doch noch Nachholdbedarf. Bei Nachhaltigkeit wird er energisch: „Ich verbrauche keine Energie, um von A nach B und dann nach C zu kommen“, sagt er.